Münster global Kritische Stadtgeographie in globaler Perspektive

Mit dem Fahrrad um die Welt oder mobile Klimapolitiken am Beispiel Münster

Ein lautes Klingeln, Bremsen quietschen und eine Person ruft: „Aus dem Weg!“. Mit einem Sprung rettet sich ein Fußgänger auf den Gehweg bevor es zum Zusammenstoß kommt. Keine Sekunde zu früh, die Fahrradfahrerin braust im selben Moment vorbei. Eine scheinbar ortskundige Passantin meint im Vorrübergehen: „Rot bedeutet hier tot“, und zuckt mit den Achseln. Sie meint dies vermutlich in Bezug auf die Farbe des Radweges, der hier besser von allen gemieden werden sollte, die nicht mit besagtem Verkehrsmittel unterwegs sind. Wir sind in Münster. Der Fahrradhauptstadt.

Das Fahrrad ist hier das dominierende Verkehrsmittel. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass es mehr Fahrräder als Einwohner*innen[1] gibt und hier das größte Fahrradparkhaus Deutschlands steht. 40 Prozent der Wege werden in Münster per Rad zurückgelegt (Stadt Münster 2019). Aber das Fahrrad ist in der Stadt Münster weit mehr als ein Verkehrsmittel. Es ist ein Politikum. Auch wenn Münster ihren Titel als „Fahrradhauptstadt“ im Jahr 2018 an die Stadt Karlsruhe abtreten musste (ADFC 2019), gibt es trotzdem etwas, das die Stadt nicht so schnell verlieren kann. Und das ist ihr Ruf als Fahrradstadt. Das Fahrrad ist ein Symbol für die Stadt geworden, es ist mit ihr verschmolzen. Wer an Münster denkt, denkt auch an Fahrräder. Diese Erzählung von der Fahrradstadt wird nicht nur von den Einwohner*innen der Stadt bedient, die tagtäglich auf ihr Rad steigen. Auch die Stadtpolitik hat gelernt dieses Symbol für ihre Klimapolitik zu nutzen und ist ziemlich gut darin geworden diese in Münsters Stadtbild zu festigen.

Die Strahlkraft der Fahrradstadt reicht bis nach Korea, Thailand und Kanada. Die Stadt Münster hat es geschafft eine internationale Vorreiterrolle einzunehmen und trägt ihre Erzählung vom klimafreundlichen, städtischen Radverkehr in die Welt hinaus. Um zu verstehen wie es dazu kommen konnte, schwingen wir uns auf den Sattel und radeln los.

Von Vorteil für die Erzählung über die Fahrradstadt Münster ist, dass Städte nie isoliert betrachtet werden können. Jede Stadt ist ein Knoten in einem Netzwerk aus verschiedenen Beziehungen (Temenos und McCann 2013, S.347). Sie befinden sich in einem ständigen dynamischen Austausch, der nicht nur in eine Richtung abläuft. Im gleichen Maße wie die Stadt Münster ihre Erzählungen auf die Reise schickt, kommen andere Erzählungen aus aller Welt in der Stadt an. Diese mobil gewordenen und zirkulierenden Erzählungen können aus Modellen, Politiken und Expertisen bestehen. In der Forschung werden sie auch als „mobile urban policies“ bezeichnet, als eine Ansammlung von Wissen und Techniken (Temenos und McCann 2013, S. 347). Diese mobilen, urbanen Politiken kommen selten in derselben Form an, wie sie ursprünglich gestartet sind. Sie verändern sich auf ihrem Weg, sind Teil von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, teils werden nur Bruchstücke ausgewählt oder weitergegeben und schlussendlich treffen sie in Städten dann auf einen spezifischen, lokalen Kontext, in den sie sich einbetten müssen (Sturm 2019, S. 31f).

Außerhalb Münsters kann Radfahren ganz schön beschwerlich sein und so richtig schnell voran kommen wir auch nicht. Das Fahrrad mag ausreichen, um in Münster mobil zu sein, damit die Erzählung vom Fahrrad aber mobil werden kann bedarf es andere Verkehrswege als die schmalen, roten Radwege entlang Münsters Straßen. Die Akteur*innen, die ein Interesse daran haben, dass die Erzählungen mobil werden und sich ausbreiten sind bei der Wahl der Transportmittel einfallsreich. So werden sie als städtische Best-Practice-Beispiele aufgegriffen, tauchen in kommunalen Handlungsempfehlungen, Leitfäden oder Strategiepapieren auf. Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Unternehmer*innen sowie gesellschaftlich engagierte Akteur*innen, sie alle nehmen Einfluss darauf wie und was für Erzählungen, Politiken und Best-Practices sich verbreiten. Denn wichtig dabei ist nicht nur zu verstehen, dass die Politiken mobil sind und umherreisen, sondern auch, dass dahinter Menschen stecken, die diese Erzählungen aus einem bestimmten Grund bewegen. Die Erzählungen sind dabei keinesfalls ‚natürlich‘, sondern sozial-konstruierte Produkte, die bestimmte Interessen in sich tragen (Temenos und McCann 2013, S.344f). Die Erzählung von der Fahrradstadt als klimapolitischer Vorreiter ist wie viele Klimapolitiken darauf ausgelegt sich zu verbreiten und zu vervielfältigen (Sturm 2019, S.31f).

Wir fahren mit dem Rad durch die Innenstadt in Richtung Prinzipalmarkt. Hier wird auch deutlich, wieso so viele Münsteraner*innen auf das Fahrrad als bevorzugtes Verkehrsmittel zurückgreifen. Durch die engen Gassen der Altstadt ist für motorisierte Verkehrsteilnehmer*innen kaum ein Durchkommen. Die Innenstadt wurde, nachdem sie im zweiten Weltkrieg zerstört worden war, in ihrer städtebaulichen Struktur originalgetreu wiederaufgebaut. Doch nicht nur die lokalen Gegebenheiten haben Auswirkungen auf die Vorherrschaft der Fahrradfahrer*innen, den Ruf als Fahrradhauptstadt und Münsters Vorreiterrolle bei der städtischen Klimapolitik. Es sind ebenfalls internationale und nationale Einflüsse, die sich in der Stadtpolitik niederschlagen.

Wir stellen unser Fahrrad kurz an der Lambertikirche ab und steigen die Stufen des Kirchturms hinauf. Von hier haben wir einen Ausblick auf die ganze Stadt und sogar über die Stadtgrenzen hinaus. Von hier aus verschaffen wir uns einen Überblick über das ‚große Ganze‘. Und zwar geht es um die Rolle von Städten in Bezug auf den globalen, anthropogenen Klimawandel. Den Städten werden hierbei insbesondere zwei wesentliche Komponenten zugeschrieben. Zum einen sind sie durch ihre städtischen Konsum- und Mobilitätsmuster Hauptverursacher*innen des Klimawandels, denn 70 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen sind auf Städte zurückzuführen. Zum anderen haben die Folgen des Klimawandels auch Folgen für die Lebensverhältnisse in den Städten und machen sie verwundbar. Sie sind demnach auch Leidtragende des Klimawandels (Bauriedl 2018, S. 263). Diese Betroffenheit ist ein Grund für die zunehmende Handlungsbereitschaft der Städte sich gegen den Klimawandel zu engagieren.

Es gibt noch weitere Gründe warum Städte in den letzten Jahren angefangen haben Klimaschutzkonzepte aufzustellen, sich Ziele bei den Einsparungen von Emissionen zu setzen und erneuerbare Energien und energieeffizientere Bauwerke zu fördern. Den Städten wird konkret Verantwortung von anderen Ebenen zugeschrieben. Bereits der Brundtland-Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1987, der bekannt wurde für seine Definition von nachhaltiger Entwicklung, adressiert die Städte.

Diese Verantwortungszuschreibung folgt dabei meist zwei grundlegenden Argumentationsmustern. Zum einen wird an das moralische Verantwortungsgefühl der Städte appelliert, die ihre Bürger*innen vor drohenden Gefahren wie extremen Wetterereignissen, Hitzeinseln oder Überschwemmungen schützen müssen. Zudem werden sie als hauptverantwortlich für den Klimawandel genannt. Zum anderen folgen sie dem ökonomischen Argument, Klimaschutz bedeute demnach auch die Kosten für Klimawandelfolgen möglichst gering zu halten. Die Städte werden als innovative Orte gesehen, mit dem Potential Änderungen herbeizuführen. Und schließlich sollen Städte Klimaschutz auch als Chance begreifen, der Wertschöpfung in die Region bringt und durch effizientere Ressourcennutzung zu Kosteneinsparungen verhilft. Gleichzeitig können Städte feststellen, dass sie sich mit dem Thema Klimaschutz im internationalen Standortwettbewerb profilieren können. Das ökonomische System an sich sowie übermäßiges Konsumverhalten und dessen Auswirkungen auf das Klima bleiben dabei meist unhinterfragt (Sturm 2019, S. 146f).

Natürlich obliegt es dann städtischen Akteur*innen sich dieser Verantwortung anzunehmen oder beispielsweise mit Verweis auf kommunale Selbstverwaltung und das Subsidiaritätsprinzip diese zurückzuweisen. Doch die Erzählung von der lokalen Verantwortung beim Klimaschutz ist eine starke Erzählung, die kaum hinterfragt wird und zur Normalität geworden ist. Durch ständiges Wiederholen von verschiedenen Akteur*innen, Institutionen und Dokumenten wird sie immer stärken und es wird schwieriger sie infrage zu stellen oder zurückzuweisen.

Die Stadt Münster nimmt sich der Verantwortung an. Hier wird der Klimaschutz als Tradition mit breiter gesellschaftlicher Unterstützung gesehen und dementsprechend großgeschrieben (Sturm 2019, S. 135). Sturm stellt bei einer Analyse der klimapolitischen Diskurse in der Stadt Münster fest, dass klimapolitische Zielsetzungen weitestgehend anerkannt sind und nicht mehr infrage gestellt werden. Es geht in städtischen Debatten nicht um die Frage, ob Klima- und Umweltaspekte berücksichtigt werden sollen, sondern welchen davon Priorität gegeben wird (Sturm 2019, S.131). Klimaschonend zu handeln ist in Münster zur Norm geworden. Das Handlungsfeld Klimaschutz in Münsters Stadtpolitik wird als ‚natürlich‘ gesehen. Diese scheinbare Natürlichkeit spiegelt sich auch in den Handlungen der Münsteraner Bürger*innen und Politiker*innen wider, die diesem Bild oder der Erzählung sowohl innerhalb der Stadt zu entsprechen versuchen, als auch deren Außenwirkung darauf richten möchten (Sturm 2019, S. 134).

Wir sitzen wieder auf dem Fahrrad und radeln die Promenade entlang. Sie ist Münsters Fahrradautobahn, auf der die komplette Innenstadt umrundet werden kann. Uns kommt der Gedanke, dass Klimapolitik nicht viel anders funktioniert als Radfahren, solange wir nicht aufhören zu treten, fallen wir auch nicht zurück. Dies zeigt sich auch in Münster, und zwar besonders deutlich an den zahlreichen Wettbewerben und Zertifizierungsverfahren, denen sich die Stadt immer wieder stellt. Münster sicherte sich nicht nur mehrmals den Titel als „Fahrradhauptstadt“, sondern auch als „Bundeshauptstadt im Klimaschutz“, den „European Energy Award“ und den „Deutschen Nachhaltigkeitspreis“ (Stadt Münster 2019b). Dieses ständige Wiederholen der Erzählung über Klimaschutz schafft Vertrautheit und verfestigt sich im Stadtbild. Ähnlich wie das Fahrrad wird Klimaschutz zum Symbol für die Stadt Münster. Die städtische Klimapolitik trägt zu einer Imagekonstruktion der Stadt bei, indem sie insbesondere die städtische Tradition des Klimaschutzes als Alleinstellungsmerkmal betont. Umwelt- und Klimaschutz ist zwar schon seit den 1990ern ein etabliertes Handlungsfeld in der städtischen Politik, aber erhält, auch durch veränderte internationale und nationale Diskurse, noch einmal verstärkt Aufschwung, insbesondere durch die Strategie, Münster gegenüber anderen Städten durch seine Klimapolitik zu positionieren (Sturm 2019, S. 135). Sturm begründet dies unter anderem mit dem medialen, gesellschaftlichen und politischen Interesse, das den beiden Auszeichnungen als „Bundeshauptstadt im Klimaschutz“ entgegengebracht wurde. Wurde die erste Auszeichnung 1997 kaum wahrgenommen, zog die zweite Auszeichnung 2006 enorme Aufmerksamkeit auf sich (Sturm 2019, S.142). Aktuell hat die Stadt Münster sich bezüglich des Klimaschutzes das Leitbild: „Münster – Unser Klima 2050“ gegeben, mit dem Ziel bis 2050 klimaneutral und klimaresilient zu sein (Stadt Münster 2019a). Konkret bedeutet das, dass die Stadt bis zum Jahr 2050 die Treibhausgasemissionen um 95 Prozent im Vergleich zu dem Jahr 1990 senken möchte und den Endenergieverbrauch um 50 Prozent reduzieren will. So steht es in einem von der Stadt beschlossenen Konzept aus dem Jahr 2017. Diese Ziele sind nicht rein zufällig gewählt, sondern auch Ergebnis von dem Einfluss mobiler, urbaner Politiken, die auf die Klimapolitik der Stadt Einfluss nehmen. So ist die Stadt seit dem Jahr 2016 eines von 22 ausgewählten Mitgliedern der „Masterplan-Kommunen 100% Klimaschutz“. Diese Kommunen erhalten für vier Jahre finanzielle Unterstützung bei der Umsetzung von ihren Klimazielen von der nationalen Klimaschutzinitiative des Bundesumweltministeriums (Stadt Münster 2019a). Bereits im Jahr 2010 sprach das Bundesumweltministerium die Stadt an, sich an der Exzellenzinitiative zu beteiligen. Da aber zu dem Zeitpunkt das kommunale Klimaschutzkonzept noch druckfrisch war lehnte Münster zunächst ab, nahm aber nach erneuerter Aufforderung dann an der zweiten Förderphase im Jahr 2016 teil (Sturm 2019, S. 143). Die Bundesregierung schreibt den Masterplan-Kommunen eine internationale Vorreiterrolle im Klimaschutz zu. Sie sollen eine Vorbildfunktion für andere Kommunen einnehmen. „Verbesserte Lebensqualität und ein Imagegewinn“ sollen mit der Implementierung des Masterplans für die Kommunen einhergehen, genauso wie die Wertschöpfung in der Region gestärkt und Kosteneinsparungen erzielt werden sollen (Paar et al. 2010, S.2).  Durch das Förderprogramm sollen sowohl eine Vergleichbarkeit der Strategien der Kommunen als auch der Zusammenhang zum Bundesziel hergestellt werden (Paar et al. 2010, S.3). Die Kommunen sollen demnach dazu beitragen, nationale Klimaschutzziele zu erreichen und durch finanzielle Anreize und direkte Ansprache dazu gebracht werden, sich zu engagieren. Gleichzeitig schafft der Staat dadurch Vorzeigebeispiele, mit welchen er sich auch international profilieren kann. Die bundespolitischen Klimaschutzziele orientieren sich an den Vorgaben, die von der Europäischen Union gestellt werden. Auch das Projekt „Masterplan 100% Klimaschutz“ steht in Verbindung mit dem Beschluss des Europäischen Rates von 2009, in welchen Industrienationen verpflichtet werden ihre Emissionen zu reduzieren (Paar et al. 2010, S.2). Sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Europäische Union sind als Vertragsparteien der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen und deren Zusatzabkommen, wie dem Pariser Übereinkommen und dem Kyoto-Protokoll, an die Vorgaben der Vereinten Nationen gebunden. Zusätzlich nehmen internationale Dokumente wie die Sachstandsberichte des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) Einfluss auf politische Entscheidungen. Von Bedeutung für lokale Klimapolitik sind auch internationale Netzwerke wie das ICLEI – Local Governments for Sustainability in welchem auch die Stadt Münster Mitglied ist. Sie sorgen dafür das Wissen global zirkulieren kann und auf lokaler Ebene ankommt.


„Across the world, ICLEI brings the latest global knowledge and solutions to the local context”

ICLEI 2019

Von der Mitgliedschaft Münsters in dem Netzwerk profitiert nicht nur die Stadt, sondern auch das Städtenetzwerk kann sich mit dem Vorzeigebeispiel Münster profilieren. Auf ihrer Homepage verweisen sie auf das Mitglied Münster als „nachhaltigste Stadt Deutschlands“ mit Verweis auf den „Deutschen Nachhaltigkeitspreis“ (ICLEI 2019a). Die Bundesregierung verweist ebenfalls auf die Stadt Münster als Mitglied des Städtenetzwerks (BMU 2018). Es wird deutlich, dass Kommunikationsprozesse in mehr als eine Richtung ablaufen und urbane Politik niemals nur „urban“ ist (vgl. Temenos und McCann 2013). Globale Wissensordnungen und zirkulierende Politiken wie die aus Dokumenten der Vereinten Nationen reisen über verschiedene Orte, Institutionen und Ebenen und lassen sich schlussendlich in lokalen Strategien wiederfinden. Doch es wäre irrtümlich anzunehmen, damit wäre die Reise zu Ende. Beispielsweise gab es allein im Jahr 2008 30 Besuche von Personen und Fachgruppen aus u.a. Südkorea, Japan, Thailand und Kanada in der Stadt Münster, die sich das Radverkehrskonzept zeigen ließen (Stadt Münster 2009, S. 48). Anschließend nahmen sie Ideen daraus für ihren eigenen lokalen Bedarf mit. In der Forschung gibt es hierfür einen Begriff, den des „Policy Tourismus“. Akteur*innen reisen an Orte, um sich aus erster Hand die Implementierung und die Folgen von bestimmten Politiken anzuschauen. Dabei stellt dieser Policy-Tourismus ein machtvolles Instrument dar. Denn die Orte und Konzepte, die den Delegationen präsentiert werden, sind sorgfältig von den Organisator*innen ausgewählt. Das Wissen, das dabei generiert wird, ist dementsprechend produziert und darin verpackt. Andererseits führt dieser Policy-Tourismus auch zu Veränderungen der Politiken, die an ihrem Ankunftsort nie in derselben Form ankommen (Temenos und McCann 2013, S. 349f).

Best-Practice-Beispiele wie die der Fahrradstadt oder der „Masterplan-Kommunen“ sollen anderen als Vorbild dienen und vermitteln vermeintlich Lösungen, die in der Umsetzung als erprobt und funktionierend dargestellt werden (Sturm 2019, S. 194). Sie können hilfreich sein, um eine Vergleichbarkeit der Strategien herzustellen. Es wird auch davon ausgegangen, dass städtische Akteur*innen aktiv nach solchen Strategien in Form von Best-Practices fragen, in der Hoffnung ähnliche Ergebnisse erzielen zu können. Damit handeln sie nach der ökonomischen Logik der Effizienz, indem sie nicht erst nach eigenen Lösungen suchen müssen. Andererseits beinhalten die Best-Practices ein ganzes Set an klimapolitischen Normen und Werten, das nicht mehr infrage gestellt wird, da es sich nicht nur um „gute“ Beispiele handelt, sondern um die vermeintlich „besten“. Fraglich ist allerdings, ob diese Beispiele wirklich wegen ihrer besonderen Qualität im Umlauf sind oder wegen ihrem ideologischen Konzept, das sie beinhalten (Temenos und McCann 2013, S. 348; Sturm 2019, S. 194). Für die Fragwürdigkeit der Wirksamkeit spricht, dass sowohl das Best-Practice-Beispiel Münster als auch die Bundesrepublik, die sich gerne als Vorreiter im Klimaschutz darstellt, ihre Klimaschutzziele für das Jahr 2020 verfehlen werden.

Auch der Umstand, dass die Stadt Münster vor kurzem den Klimanotstand ausgerufen hat, irritiert das Bild der Vorzeigestadt. Bislang passte das klimapolitische Engagement zum Erzählmuster der Stadt Münster und vor diesem Hintergrund erschienen internationale und nationale Vorgaben an die städtische Klimaschutzstrategie anschlussfähig und legitim (Sturm 2019, S. 138). Die Stadt nahm, und nimmt sich noch immer, der zugeschriebenen Verantwortung der anderen Ebenen an. Doch gibt es Anzeichen dafür, dass diese infrage gestellt und zurückgewiesen wird.  

In der „mobile urban policy“-Forschung wird davon ausgegangen, dass nicht nur die zirkulierenden Erzählungen sozial konstruiert sind, sondern genauso Skalen. Binäre Festsetzungen wie ‚global‘ und ‚lokal‘ müssen hinterfragt werden (Temenos und McCann 2013, S. 346). Die vermeintliche Natürlichkeit der Ebenen macht es einfach sie als Handlungsebene zu adressieren und ihnen Verantwortung zuzuschreiben. Die ‚Gewordenheit‘ der lokalen Ebene als klimapolitische Handlungsebene zeigt sich beispielsweise in der Verschiebung des Diskurses um das Thema „Umwelt“ in bundespolitischen Debatten. Wurden die Debatten Ende der 1990er Jahre noch von dem Begriff „Umwelt“ dominiert, trat ab dem Jahr 2007 der Begriff „Klimawandel“ neu in den Diskurs ein. Das hatte auch Folgen für die lokale Politik. Während bislang vor allem die Bekämpfung lokaler Umweltprobleme im Vordergrund lokaler Umweltpolitik stand, wurden durch das Thematisieren des Klimawandels der Bundespolitik auch Forderungen nach lokaler Verantwortung für die globalen Klimaveränderungen laut. In der Stadt Münster fand diese Diskursverschiebung bereits Ende der 1990er und somit lange vor der bundespolitischen statt (Sturm 2019, S. 210).


Klimawandel [wird] zu einem ‚kommunalen‘ oder einem ‚globalen‘ Problem ‚gemacht‘“

Sturm 2019, S. 31

Wird die ‚Gewordenheit‘ von Diskursen betrachtet, wird auch deren Veränderlichkeit und soziale Konstruktion deutlich. Das ‚Natürliche‘ scheint auf einmal gar nicht mehr so ‚natürlich‘ und dementsprechend ist es vielleicht auch weniger erstaunlich, dass die Stadt Münster die Verantwortungszuschreibung nicht bedingungslos annimmt. Das zeigt sich beispielsweise in der Beschlussvorlage des Stadtrats zum „Handlungsprogramm Klimaschutz 2030“ von vor ein paar Wochen. Hier wird gleich an drei Stellen darauf verwiesen, dass die Stadt ihre Klimaziele nur unter „optimalen externen Rahmenbedingungen“ erreichen kann und, dass „die europa-, bundes-, und landesweite Politik und Gesetzgebung […] großen Einfluss auf die Zielerreichung haben“ (Stadt Münster 2019c, S.2).

Das Mobilwerden und ebenso das Ankommen von Politiken muss vor der Verschränkung von freiwilligen und erzwungenen Formen betrachtet werden (Sturm 2019, S. 31). Auch in der Stadt Münster lassen sich beide Formen wiederfinden. Die Stadt begründet ihr klimapolitisches Engagement mit ihrer Tradition und einer breiten gesellschaftlichen Unterstützung, gleichzeitig zeigt sich der bundespolitische Einfluss auch in der städtischen Klimapolitik ebenso wie der der internationalen Vorgaben. Die Stadtpolitik wird nicht nur durch mobile Politiken geprägt, sondern entwickelt sich auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse und ihren lokalen Gegebenheiten.

Ebenso sind die globalen und lokalen Diskurse und Erzählungen, die um eine Stadt herumkreisen ein wichtiger einflussnehmender Faktor. Die Verantwortungszuschreibung an die kommunale Ebene wird hier zum Teil als legitim und natürlich angesehen, aber auch infrage gestellt und zurückgewiesen. Diese Erzählungen sind demnach nicht immer so ‚natürlich‘ wie sie erscheinen und können sich auch verändern.

Städtische Klimapolitik orientiert sich häufig an einer neoliberalen, ökonomischen Logik, dergestalt, dass am Wirtschaftswachstum festgehalten wird, Effizienz und Wettbewerbsgedanken unhinterfragt bleiben. Dabei sollten die Folgen des aktuellen Wirtschaftssystems insbesondere in Bezug auf den Klimawandel mehr Beachtung finden. Andererseits sieht Toly Städte als Orte, die aufgrund ihrer höheren Flexibilität als Staaten, eingebunden in transnationale Netzwerke und der zunehmenden Relevanz nicht-staatlicher Akteur*innen sowie ihrer Funktion als „norm entrepreneurs“ ein enormes Potential haben, neue Normen zu etablieren und neoliberale Umweltpolitik zu delegitimieren (2008, S. 345). Sturm stellt fest, dass zwar durch das Mobilisieren und Zirkulieren von Politiken bestimmte Normen und Werte transportiert und verfestigt werden können, durch den Austausch sowie die Kooperation aber auch Räume entstehen, in denen Wissen und Vorstellungen über Klimapolitik kritisch diskutiert, infrage gestellt und bestehende Strategien auch wieder verändert werden können (2019, S.194f).

In der Stadt Münster begegnet uns auf den Radwegen seit kurzem auch ein anderes Gefährt. Der E-Scooter. Was auf den ersten Blick den Anschein eines weiteren, umweltfreundlichen Verkehrsmittels erweckt, ist auf den zweiten gar nicht mehr so „grün“, wird der Ressourcenverbrauch bei der Herstellung der Batterien und der Frage nach deren Langlebigkeit bedacht. Zudem brauchen die E-Scooter Strom, dafür werden sie von Transportern mit Verbrennungsmotoren eingesammelt und anschließend wieder verteilt. Dadurch entstehen weitere Emissionen. Wir auf unserem Fahrrad hingegen fühlen uns allein durch den Akt des Fahrradfahrens schon wie Klimaschützer*innen, die ihren Beitrag für den lokalen und globalen Klimaschutz leisten. Natürlich rein freiwillig, oder?


[1] Um Frauen und Männer und andere Geschlechter gleichermaßen sichtbar zu machen, wird bewusst auf die Verwendung des generischen Maskulinums verzichtet und der „Genderstar“ verwendet. 

Literatur:

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ICLEI, Local Governments for Sustainability (2019): About us. Online verfügbar: https://iclei.org/en/About_ICLEI_2.html (05.11.2019).

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Stadt Münster (2009): Fahrradhauptstadt Münster. Alle fahren Rad: gestern, heute, morgen. Online verfügbar: https://www.adfc-nrw.de/fileadmin/dateien/Muenster/Muenster/PDF_Dateien/Fahrradhauptstadt_Muenster_8-MB.pdf (06.11.2019).

Stadt Münster (2019): Verkehr in Zahlen. Online verfügbar: https://www.stadt-muenster.de/verkehrsplanung/verkehr-in-zahlen.html (02.11. 2019).

Stadt Münster (2019a): Münster-Unser Klima 2050. Gemeinsam für das klimafreundliche Münster der Zukunft. Online verfügbar: https://www.stadt-muenster.de/klima/unser-klima-2050.html (04.11.19).

Stadt Münster (2019b): Ausgezeichnet: Münster. Online verfügbar: https://www.muenster.de/auszeichnungen.html (05.11.2019).

Stadt Münster (2019c): V/0770/2019. Öffentliche Beschlussvorlage. Handlungsprogramm Klimaschutz 2030 für Münster.

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Sturm, Cindy (2019): Klimapolitik in der Stadtentwicklung. Zwischen diskursiven Leitvorstellungen und politischer Handlungspraxis. Transcript Verlag. Bielefeld.

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