Münster global Kritische Stadtgeographie in globaler Perspektive

Städte im Geflecht globaler Infrastruktur und Logistik – Von Münster nach Afghanistan

Michael Wiegand, 15.10.2019

Es ist gerade wenige Minuten her, dass die Sonne aufging, als die schwer bekleideten Männer nach draußen gehen. Die Tarnfarben passen sich gut dem sandigen Boden an. Das gepanzerte Fahrzeug, das neben ihnen steht, zeigt eindeutig, dass sie sich in einem Kriegsgebiet befinden. Auf den Ärmeln ihrer Kleidung ist die deutsche Flagge zu sehen. Sie warten auf den Hubschrauber, der aus der Ferne angeflogen kommt. Je näher er dem Boden kommt, desto mehr Staub wird aufgewirbelt, sodass es fast unmöglich ist, den Hügel im Hintergrund zu erkennen. Die Soldaten wirken nervös, gehen am Fahrzeug vorbei und steigen in den Hubschrauber ein. Nachdem alle Männer eingestiegen sind, hebt er wieder ab. Erneut wirbelt der sandige Boden Staub in die Luft, der sich auf meinem Gesicht absetzt.[1]

Personalaustausch in einem Außenposten der Bundeswehr.

Deutsche Soldaten befinden sich in Afghanistan in brütender Hitze und staubiger Trockenheit. Sie helfen beim Aufbau eines kriegsgeplagten Landes[2] und kämpfen gegen den Schrecken des islamistischen Terrors. Doch wie kam es dazu, dass deutsche Soldaten an den Hindukusch gingen, dort ihr Leben ließen und viel länger blieben, als ursprünglich vorgesehen? Welche Rolle spielen internationale Netzwerke von Logistik und Infrastruktur und wie kommt es, dass eine relativ kleine Stadt wie Münster eine solch wichtige Position im Einsatz der NATO einnimmt?

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Für den Anfang dieser Geschichte, müssen wir ein wenig in der Zeit zurückgehen. Denn der Beginn des Einsatzes in Afghanistan liegt in einem Ereignis, das die gesamte (westliche) Welt gleichermaßen geschockt und verändert hat: Die Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington. Es waren Fernsehbilder, die um die Welt gingen, als die Flugzeuge in die beiden Türme des World Trade Centers flogen, die nur rund eine Stunde später in sich zusammensackten. Es dauerte nur wenige Sekunden, ehe die Türme zu Staub zerfielen, doch diese Sekunden reichten, um das Leben von vielen Menschen weltweit und vor allem in den Vereinigten Staaten komplett auf den Kopf zu stellen. Zum ersten Mal wurde der Menschheit bewusst, dass die Großmacht USA verwundbar ist und dass die Sicherheit in einer globalisierten Welt relativ ist. Und die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Die Anschläge wurden von der Regierung unter George W. Bush als kriegerischer Akt gewertet und somit als Kriegserklärung gegen die USA. Damit war erstmals in der Geschichte der NATO der Bündnisfall eingetreten, denn nach Artikel 5 des NATO-Vertrages glichen die Anschläge aus internationaler Sicht einem Angriff auf das gesamte NATO-Bündnis.[3] Und genau an dieser Stelle kommen nun die deutschen Soldaten ins Spiel. Deutschland als Mitglied der NATO war nun zu einem Teil des Bündnisfalles geworden. Daher sicherte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA uneingeschränkte Solidarität zu. Doch im Gegensatz zur amerikanischen Regierung wollte man an keinem Vergeltungsschlag beteiligt sein. Deshalb entzog sich Deutschland einem möglichen Irak-Krieg und signalisierte stattdessen, quasi als Kompensation, die Bereitschaft, Soldaten nach Afghanistan zu schicken.[4] Vermutlich war es ein Kompromiss, denn während der damalige Verteidigungsminister Peter Struck davon sprach, dass „Deutschland auch am Hindukusch verteidigt werde“, war ein Großteil der deutschen Beteiligung gegen einen Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan.[5] Doch im Gegensatz zum Krieg im Irak ging es nicht nur um die Verteidigung des Landes, sondern ebenfalls um internationale Sicherheitsinteressen, zu denen unter anderem die Beseitigung der Terror-Infrastrukturen und der Aufbau des Landes zählten. Auch aus diesen Gründen stand der Ablehnung der Bevölkerung eine große Mehrheit im Parlament gegenüber.[6]

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Wir schreiben das Jahr 2019. Auf sechs Monate sollte die Mission in Afghanistan ursprünglich beschränkt sein. Doch noch immer befinden sich über 1.000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan. Bereits 2014 war der aktive Kampfeinsatz zu Ende, aber trotzdem konnten nicht alle von ihnen nach Hause, denn sie haben die Aufgabe die afghanischen Sicherheitskräfte auszubilden und zu beraten. Insgesamt 90.000 Angehörige der Bundeswehr waren bis Ende letzten Jahres vor Ort im Einsatz, einige sogar mehrfach.[7] Die Mission begann, wie bereits erwähnt, mit dem Ziel, das kriegsgebeutelte Land aufzubauen. Dazu passte, dass sich die deutschen Streitkräfte im Norden des Landes stationierten, der als befriedet galt. Doch der Ernst der scheinbar harmlosen Mission holte sie schnell ein. Besonders mit dem 19. Mai 2007 änderte sich die Lage bei der Bundeswehr drastisch. An jenem Tag sprengte sich ein Selbstmordattentäter in die Luft und riss damit drei Soldaten in den Tod. An Wiederaufbau dachte seit diesem Tag kaum noch jemand.[8] Bis 2016 ließen insgesamt 56 deutsche Soldatinnen und Soldaten ihr Leben, um dem Land zu helfen und doch gibt es letztlich keine Garantie, dass das Land dauerhaft stabilisiert werden kann.[9] Im Gegenteil haben sich die Stabilität und Sicherheit in Afghanistan und auch im Irak nicht erhöht, sondern verringert. Zudem wurden mehr Terroristen rekrutiert. Wird nun die Tatsache berücksichtigt, dass die Zahl der terroristischen Anschläge in der „westlichen“ Welt auch nach dem Regimewechsel im Irak noch deutlich zugenommen hat, zeigt sich deutlich, dass die klassische Kriegsführung nicht das zielführende und erfolgreiche Mittel im Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist.[10] Zumindest hatten die internationalen Einsatzkräfte es geschafft, die Kindersterblichkeit deutlich zu verringern, auch wenn diese immer noch am unteren Ende im internationalen Vergleich steht.[11] Doch dies scheint nur ein kleiner Lichtblick am Ende eines dunklen Weges zu sein. Ein Weg, den auch deutsche Soldatinnen und Soldaten mitgegangen sind, weil sie den internationalen Verpflichtungen nachkamen, die an die NATO-Mitgliedschaft geknüpft sind. Und ein Weg, der für viele Angehörige der Bundeswehr noch immer nicht zu Ende beschritten ist.

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 „Wir wurden in Kontingente eingeteilt, die am nächsten Morgen zu ihren verschiedenen Zielorten in Afghanistan weiterfliegen sollten. Für mich hieß das Kunduz, Abflug ca. 07:00 Uhr früh. Man verfrachtete mich in ein usbekisches Hotel auf der Kasernenanlage der usbekischen Armee, wo ich nächtigen sollte. „Hotel“ ist für dieses Haus ein anspruchsvoller Titel. Die Sanitäranlagen waren schrottreif. Ich verkniff mir den Gang aufs Klo und wartete auf Kunduz und deutsche Toiletten. Zähneputzen wagte man nur mit Selterswasser aus der Flasche. Usbekisches Wasser – davor warnte man uns sofort. Das Frühstück nahmen wir in der Feldküche des deutschen Luftwaffenstützpunktes ein. Es gab Essen im Überfluss und in Vielfalt. Um die Ernährung musste man sich offenbar keine Sorgen machen, eher schon um das unvermeidliche Übergewicht, das sich einstellen musste, wenn man dem Überangebot an leckerer Nahrung zu sehr nachgab. Am Eingang der Truppenküche hingen Desinfektionsflaschen. Sehr schnell lernte ich den Sinn und Zweck in diesem Teil der Erde kennen, mir vor dem Essen nicht nur die Hände zu waschen, sondern diese auch noch zu desinfizieren. Immerhin, in neun Monaten Einsatzzeit hat mich der gefürchtete Durchfall nur einmal erwischt. Das ist fast schon rekordverdächtig.“[12]

Rainer Buske war selbst als Soldat in Afghanistan im Einsatz und erzählt darüber in seinem Erlebnisbericht. Doch wozu dient diese Anekdote für diesen Artikel, außer der Tatsache, dass es sich um einen interessanten Bericht aus erster Hand handelt? Nun, die Erzählung weist hin auf zwei wichtige Aspekte des deutschen Einsatzes in Afghanistan. Zum einen wird deutlich, dass ein solch großer militärischer Einsatz geprägt ist von internationaler Zusammenarbeit. Während die NATO selbst eine transnationale Gemeinschaft ist, ist es eben auch notwendig, Absprachen mit weiteren Staaten zu treffen (in diesem Fall also Usbekistan), um Sicherheit und Erfolg der Mission zu bewerkstelligen. Dieser Aspekt soll jedoch an späterer Stelle näher beleuchtet werden. Zum anderen zeigt sich aber auch, dass ein solcher militärischer Einsatz ohne die entsprechende Infrastruktur kaum möglich wäre. Die Bereitstellung von Flügen, Hotels und Nahrungsmittelversorgung ist bereits weit vor Beginn des Einsatzes zu planen und spielt somit eine essentielle Rolle. Und auch wenn die Soldatinnen und Soldaten einmal vor Ort sind, ist es wichtig, dass sie weiterhin mit Lebensmitteln, Waffen, medizinischen Hilfsmitteln (wie z.B. auch das beschriebene Desinfektionsmittel) und anderen Dingen beliefert werden können.

Ohne ein erfolgreiches Konzept von Logistik und Infrastruktur ist ein solch großer militärischer Einsatz also nicht möglich. Die Basis muss funktionieren, damit die Truppe agieren kann. Und die deutsche Infrastruktur ist sehr gut. Als größter Truppensteller im Norden Afghanistans errichtete Deutschland mitten in der Wüste die größte Militärbasis des Nordens, die auch von zahlreichen Verbündeten genutzt wurde. Die Basis diente nicht nur als Hauptquartier des deutschen Stabs mit logistischen Funktionen, sondern fungierte auch als Versorgungs- und Aufenthaltsgebäude. Zudem errichtete die Bundeswehr neue, größere Feldlager, die in der Nähe von Flughäfen platziert waren und somit neben einer vereinfachten Logistik auch eine schnelle Evakuierung über den Luftweg ermöglichte.[13]

Um die Zusammenhänge von Militär und logistischer Infrastruktur verstehen zu können, ist es wieder notwendig, in die Vergangenheit zu schauen. Denn fast alle globalen Transaktionen und Verflechtungen der heutigen Zeit haben ihren Ursprung im Militär. Angefangen hat die sogenannte „logistische Revolution“ bereits im 19. Jahrhundert während des Viktorianischen Zeitalters. Die Royal Navy baute seinerzeit Handelsrouten aus, um die Dominanz des eigenen Imperiums zu untermauern und zu stärken. Auch zuvor hatte bereits Napoleon Bonaparte das Wort „logistique“ verwendet, das für ihn gleichbedeutend war mit der Beförderung von Truppen und Material an die Front. An diese Traditionen anknüpfend blieb die Logistik bis zum Zweiten Weltkrieg ein rein militärisches Streben. Nach und nach wurden schließlich die Technologien, Analysewerkzeuge und das Personal in den zivilen Gebrauch überführt.[14] Während die logistischen Infrastrukturen in den vergangenen Zeiten also vor allem der Versorgung von Armeeangehörigen diente, kamen sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts auch in der globalen Industrie an. Die militärische Effizienz in den Bereichen Transport und Verteilung diente vielen Unternehmen in Westeuropa und den USA als Vorbild, um Kosten einzusparen. Damit hatten sie eine Möglichkeit gefunden, den sinkenden Profiten entgegenwirken zu können. Die globale Industrie reagierte also auf die Veränderungen in der weltweiten Verteilung von Gütern und Waren. Ausgehend von diesem historischen Meilenstein, weisen die Zirkulationsprozesse der Industrie heute ein breites Spektrum auf, das weit über die Aspekte Transport und Lagerung der historischen Logistik hinausgeht. Auch wichtige Transportinfrastrukturen wie Kanäle, Häfen oder Bahngleise haben durch logistische Errungenschaften Investments angezogen.[15]

Die Rolle von Infrastruktur und Logistik bei internationalen militärischen Einsätzen verdeutlicht sich darin, dass es sich bei der Logistik um einen der meist privatisierten Sektoren der zeitgenössischen Kriegsführung handelt. Besonders die Militärbasen der USA im Irak und Afghanistan werden von privaten Unternehmen gesponsort, die somit auch für Wohnung und Verpflegung der Militärangehörigen verantwortlich sind. Die Logistik ist auch deshalb so wichtig, weil sie die Lieferketten von Waren und Gütern in einer globalisierten Welt ordnet. Sie wirkt der Territorialität entgegen, indem sie die nationalen Ökonomien reorganisiert im transnationalen Geflecht von Infrastruktur, Information, Waren und Menschen.[16] Ohne das Militär gäbe es also wohl weder Logistik noch Infrastruktur. Kein Smartphone, kein Computer, kein Navigationsgerät könnte so produziert werden, wie es heute so häufig der Fall ist, mit vielen kleinen Arbeitsschritten, die quer über die Welt verteilt sind. Und auch das Reisen und Handeln würde in seiner Einfachheit heute wohl nicht existieren. Jedes Mal, wenn irgendwo auf der Welt ein Schiff vom Hafen ablegt oder ein Flugzeug startet, werden die bestehenden Netzwerke der Infrastruktur benötigt, die das Militär beisteuerte. Und jedes Mal, wenn ein Soldat in einem fernen Land in den Helikopter steigt, macht er Gebrauch von den logistischen Errungenschaften, die sich in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten im globalen Kontext etabliert haben.

Ohne die Logistik wäre es also nicht möglich, dass Bundeswehrangehörige im Ausland ihre Einsätze verrichten, da Personen, Material und Lebensmittel nicht über territoriale Grenzen hinweg transportiert werden könnten. Und ohne das Militär hätte es viele infrastrukturelle Errungenschaften vielleicht nie gegeben. Doch warum spielt ausgerechnet eine so vergleichsweise kleine Stadt wie Münster eine so große Rolle in der globalen militärischen Infrastruktur? Um diese Frage zu beantworten muss eine nähere Betrachtung des Deutsch-niederländischen Korps (DNC) erfolgen, bei dem es sich um einen multinationalen Verband und außerdem ein Hauptquartier der NATO handelt. Deshalb ist das Korps international verflechtet und zudem in der Lage, militärische Einheiten überall auf der Welt zu befehligen. Dies geschieht von Münster aus, da das DNC hier seinen Sitz hat.

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„Ich trat durch die Schwingtüren in das Gebäude ein und befand mich in der kleinen Eingangshalle, die zur Hälfte aus einer breiten Treppe besteht, die ein halbes Stockwerk hochführt. Mit klassischen Stoffbändern ist ein kleines Personen-Führsystem an der Treppe angelegt, das oben anfängt und nach rechts zu einem Schalter führt. Oben links neben der Treppe befindet sich ein kleiner Tisch und zwei Sitzgelegenheiten sowie Werbematerial. Die Architektur und Einrichtung der kleinen Halle sagt aus, dass dies kein Ort zum Verweilen ist. Der Schalter sieht geschlossen aus, also ist mein vorläufiger Plan, die erste Person zu fragen, die ich antreffe. Auf halbem Weg die Treppe hoch ertönt ein metallenes „Einmal stehen bleiben bitte!“[17]

Diese Erfahrung machte Simon Thiele, als er das erste Mal das Gebäude des DNC in Münster betrat. Doch auch wenn sein Interviewversuch mehr oder weniger scheiterte, hat das DNC eine wichtige Rolle im internationalen militärischen Geflecht und im Einsatz in Afghanistan inne. Die Geschichte des deutsch-niederländischen Korps beginnt 1991, als es auf Initiative der Niederlande beschlossen wurde. Vier Jahre später wurde es am 30. August 1995 offiziell gegründet.[18] Seitdem befindet sich in der Stadt des westfälischen Friedens jene Eliteeinheit der NATO, die auch eine Zeit lang die Führungsfunktion beim Afghanistaneinsatz innehatte. Das DNC selbst wäre als Korps in der Lage einen kompletten Krieg zu führen. Zudem beherbergt Münster die schnelle Eingreiftruppe, wodurch die NATO innerhalb von 48 Stunden an mehreren Orten gleichzeitig Krieg führen kann. Die Planungen der NATO aus Münster heraus werden durch das Vorhandensein einer multinationalen Truppe, wie des DNC, erleichtert.[19] Auf der anderen Seite steht das DNC aber auch für eine gute bilaterale Kooperation und dient als positives Beispiel einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ein weiterer Meilenstein erfolgte 2016 mit der Zusammenführung der deutschen und niederländischen Marine.[20] Im Jahr 2019 arbeiten in Münster 13 Nationen zusammen, die insgesamt eine Stärke von 1.100 Soldatinnen und Soldaten aufweisen. Neben dem multinationalen Aufbau, arbeiten sie auch im Verbund mit der Luftwaffe, der Marine oder anderen Einheiten der Bundeswehr. Ein Einsatz kann entweder unter der Leitung von Deutschland, den Niederlanden, der NATO oder der EU geführt werden. Seit Januar 2019 obliegt die Führung der NATO- Einsatzgruppe in Afghanistan auch wieder dem DNC.[21]

Erstmals erhielt das DNC im August 2009 die Führung des ISAF-Einsatzes. Zeitgleich wurden auch 400 Soldatinnen und Soldaten aus Münster nach Afghanistan verlegt, um den Einsatz zu unterstützen. Mit der Einnahme der Führungsrolle sollte zudem das Hauptquartier vor Ort verstärkt werden. Zum damaligen Zeitpunkt befanden sich neben Deutschland und den Niederlanden zehn weitere Nationen unter dem Dach des Korps. Insgesamt waren dem DNC während der Führung in Afghanistan rund 8.500 Soldatinnen und Soldaten aus sieben Nationen unterstellt. Diese Führung erfolgte aus Münster, von wo aus im Ernstfall sogar bis zu 60.000 Einsatzkräfte befehligt werden könnten. In nur fünf Tagen können globale Militäroperationen in Gang gesetzt werden, schneller als häufig in nationalen Parlamenten darüber abgestimmt werden kann.[22]

Aus logistischer Sicht war auch der Sitz des deutschen Lufttransportkommandos in Münster von großer Bedeutung für die globale Vernetzung, ehe dieses mit Aufstellung einer europäischen Variante aus Münster abgezogen wurde.[23] Dieses ist für die Organisation aller Flüge der Bundeswehr zuständig und bringt somit Soldaten, Lebensmittel und Hilfsgüter ebenso wie Autos und Lastwagen in die Einsatzgebiete der Bundeswehr.[24]

Das alles sind Aspekte, die selbst vielen Bewohnern Münsters nicht bekannt sind. Vieles von dem, was von Münster aus gesteuert wird, hat eine große Bedeutung für die Bundeswehr, die NATO und den Einsatz in Afghanistan. Trotz der überschaubaren Größe der Stadt Münster, macht es das deutsch-niederländische Korps möglich, dass die Stadt im globalen Geflecht der NATO eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Die multinationalen Strukturen, die Erfahrungen mit der Führungsposition im Einsatz und die logistischen Kenntnisse machen das DNC unverzichtbar für die NATO und zeigen, dass ein bisschen Münster auch in Afghanistan zu finden ist. Aber wie ist eine militärische Einheit, wie das DNC, mit Sitz in Münster in der Lage, all diese Koordinierungen erfolgreich zu gestalten? Wie kann ein einzelnes Korps es schaffen, die Befehlsgewalt über so viele internationale Soldaten zu haben und diese Aufgabe zu bewältigen? Dabei spielen auch regelmäßige Großübungen eine Rolle, die es dem DNC ermöglichen, stets vorbereitet zu sein.

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Der Himmel ist blau, als der matt-grün lackierte Geländewagen rückwärts auf die Laderampe fährt, um im Bauch des Flugzeugs zu parken. Insgesamt vier Militärmaschinen stehen heute am Flughafen Münster-Osnabrück, in jedem von ihnen befinden sich zwei Autos. Neben den Fahrzeugen nehmen noch 16 Soldaten in den Flugzeugen Platz. Sie brechen auf nach Polen, um dort eine Übung durchzuführen. Dort werden sie ihre Kollegen aus dem Ausland treffen. Auf dem Flugfeld herrscht Betriebsamkeit und Aufregung und doch scheint es so, als wären alle Beteiligten ganz ruhig, so als hätten sie das alle schon oft gemacht und wären längst routiniert in ihrer Aufgabe.[25]

Kehren wir kurz zurück zum Ausgangspunkt dieser Geschichte: Den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Dieser Angriff war vielleicht auch deshalb so schockierend, weil niemand mit einem Anschlag dieses Ausmaßes gerechnet hatte. Obwohl die USA seit dem Kalten Krieg die „Preparedness“-Strategie anwenden, also das „Vorbereitet-Sein“, konnte diese Tat nicht verhindert werden. Während „Preparedness“ also bei Terrorangriffen ineffektiv ist, dient sie vor allem dem Schutz vor kriegerischen Attacken und dazu im Falle eines überraschenden Angriffs unverzüglich in der Lage zu sein, sich zu verteidigen und zurückzuschlagen. Dadurch soll nicht nur direkt die Bevölkerung, sondern auch kritische Infrastruktur geschützt werden.[26] Auch an diesem Beispiel lässt sich die globale Verflechtung des DNC wieder erkennen. Denn aufgrund seiner Größe und der Fähigkeit schnell einzugreifen, kann man das Korps als Beispiel für den „Preparedness“-Ansatz im gesamten Einzugsbereich der NATO sehen. Um jederzeit eine optimale Vorbereitung sicherzustellen, sind permanente Übungen notwendig. In diesen Übungen werden verschiedenste Bedrohungsszenarien simuliert, um herauszufinden, wie eine mögliche Gefahr im Ernstfall am schnellsten und einfachsten gebannt werden kann.[27]

Da das DNC eines der Hauptquartiere der NATO ist, obliegt ihm die Aufgabe, solche Truppenmanöver im internationalen Rahmen durchzuführen. Ein prominentes Beispiel aus den letzten Jahren ist die Übung „Noble Jump“, deren letzte Vorbereitungen am Flughafen eben beschrieben wurden, und bei der die sogenannte „Speerspitze“ der NATO-Truppen möglichst schnell verlegt werden sollte. Dies sollte auch dazu dienen, dem Image als schwerfällige Truppe entgegenzuwirken.[28] Auch das Üben eines Großeinsatzes ist essentiell, da ja gerade die enorme Anzahl an befehligten Personen das DNC ausmacht. „Trident Juncture“ ist ein solches Beispiel einer Übung, die in Norwegen stattfand und rund 50.000 Beteiligte aufwies. Wie auch „Noble Jump“ diente das Manöver der Abschreckung Russlands, auch wenn dieses Ziel nie offiziell formuliert wurde. Das Manöverdesign jedoch deutet unmissverständlich auf eine Vorbereitung für einen Einsatz an der NATO-Ostgrenze vor.[29] Bei diesen Manövern werden die Verknüpfungen der internationalen Logistik und der Infrastruktur wieder sichtbar. Denn einerseits müssen bürokratische Hürden genommen werden, da der Schengenraum nicht für das Militär gilt und somit auch der Truppen- und Materialtransport nicht darunter fällt. Andererseits ist es möglich, dass es bei der Kommunikation und Abstimmung zu Schwierigkeiten bei allen Beteiligten kommen kann. Bei „Trident Juncture“ kollidierte etwa eine norwegische Fregatte mit einem Tankschiff im Verladehafen. Während die Fregatte sank, musste das Öl-Terminal geschlossen werden, was dazu führte, dass der Rest Europas kurzzeitig nicht mehr von dort aus mit Öl beliefert werden konnte.[30]

Die „Preparedness“-Strategie und ständigen Übungen deuten darauf hin, dass die Sicherheit aktuell stark gefährdet ist. Objektiv betrachtet ist die Sicherheit vor allem in Europa nach dem Ende der jugoslawischen Kriege jedoch so groß wie noch nie. Kein Staat wagt es ein NATO-Mitglied anzugreifen, da das NATO-Bündnis militärisch überlegen ist. In der Wahrnehmung sieht die Lage aber ganz anders aus, da vor allem Medien und Politiker eine apokalyptische Welt mit enormem Gefährdungspotential suggerieren. Besonders die USA und Israel seien von Terrorismus und Fanatismus bedroht.[31] Und auch in dieser Wahrnehmung zeigen sich die internationalen Strukturen, denn durch die Globalisierung ist eine mögliche Gefahr nicht weit entfernt. Im Gegenteil könnte die Gefahr selbst in Münster relevant sein, denn gerade durch die Wichtigkeit des DNC für das internationale militärische Gefüge, könnte die Stadt zu einem potentiellen Ziel für Terroranschläge werden.[32]

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Das also hat das ruhige und beschauliche Münster, die Stadt des Westfälischen Friedens, mit dem Krieg in Afghanistan zu tun. Von hier aus wird der Einsatz gelenkt und gesteuert, Soldatinnen und Soldaten werden entsandt und die Kontingente aller NATO-Staaten organisiert. Auch wenn Afghanistan räumlich so weit weg scheint, ist es, zumindest beim Deutsch-niederländischen Korps, so nah. Die Globalisierung sorgt dafür, dass große Distanzen in Windeseile überbrückt werden können und durch Logistik und Infrastruktur können Grenzen überwunden werden. So begann alles mit dem Attentat in New York und Washington, führt über den Nahen Osten und endet in Münster. Ein Ort, der verflochten ist in einem Gewebe aus militärischen Verbindungen weltweit, während die Bewohner kaum etwas davon mitbekommen und die Idylle der Fahrradstadt genießen, in der 1648 der Westfälische Frieden geschlossen wurde.

Der Wind geht zurück und die Betriebsamkeit der Einsatzkräfte neigt sich ebenso dem Ende entgegen, wie der Tag in Afghanistan. Weite Teile der Landschaft lassen sich im Dunkel des abendlichen Schattens nur noch schemenhaft erkennen, während die Sonne als hell leuchtender Kreis über den Hügeln liegt. Es wurde rasch kühler, als die Sonne dunkler und dunkler wurde und schließlich begann, sich als roter Halbkreis hinter den Gipfeln zu verstecken. Ein letztes Mal bäumte sich der Wind auf, fast so als wollte er auch die letzte Erinnerung an den bald vergangenen Tag beiseite wehen. Wenn es doch immer so friedlich wäre. Der letzte Zipfel des wärmenden Lichts hatte den Kampf gegen den natürlichen Lauf verloren und war hinter den Hügeln verschwunden. Während ich einen letzten Blick über die Landschaft warf, fing ich an zu frieren.[33]


[1] https://search.creativecommons.org/photos/617c32b3-d24d-4686-87a6-854da2c4b569

[2] Buske, Rainer (2015): Kunduz. Ein Erlebnisbericht über einen militärischen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan im Jahre 2008. Carola Hartmann Miles-Verlag, Berlin 2015 (S.11)

[3] https://www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/politik/vertiefung/afghanistan/danach.html

[4] Buske, Rainer (2015): Kunduz. Ein Erlebnisbericht über einen militärischen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan im Jahre 2008. Carola Hartmann Miles-Verlag, Berlin 2015 (S.11)

[5] https://www.frieden-fragen.de/entdecken/aktuelle-kriege/afghanistan/was-geht-uns-der-krieg-in-afghanistan-an.html

[6] https://www.boell.de/de/navigation/asien-afghanistan-einsatz-bilanz-12593.html

[7]  https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeswehr-90-000-soldaten-haben-in-afghanistan-gekaempft-a-1255751.html

[8] Buske, Rainer (2015): Kunduz. Ein Erlebnisbericht über einen militärischen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan im Jahre 2008. Carola Hartmann Miles-Verlag, Berlin 2015 (S.12)

[9] https://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/238332/afghanistan-einsatz

[10] Pradetto, August (2004): Die NATO im Geflecht internationaler Organisationen. In: König, Helmut & Manfred Sicking (Hrsg.): Der Irak-Krieg und die Zukunft Europas. Transcript Verlag, Bielefeld 2004, S. 67 – 100. (S.83)

[11] https://www.boell.de/de/navigation/asien-afghanistan-einsatz-bilanz-12593.html

[12] Buske, Rainer (2015): Kunduz. Ein Erlebnisbericht über einen militärischen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan im Jahre 2008. Carola Hartmann Miles-Verlag, Berlin 2015 (S.21)

[13] Münch, Philipp (2015): Die Bundeswehr in Afghanistan – Militärische Handlungslogik in internationalen Interventionen. Rombach Verlag KG, Freiburg im Breisgau/Berlin/Wien, 2015 (S.202ff.)

[14] Chua, Charmaine; Danyluk, Martin; Cowen, Deborah & Laleh Khalili (2018): Introduction: Turbulent Circulation: Building a Critical Engagement with Logistics. In: Environment and Planning D: Society and Space 2018, Vol. 36(4), S. 617 – 629. DOI: 10.1177/0263775818783101 journals.sagepub.com/home/epd (S. 620)

[15] Chua, Charmaine; Danyluk, Martin; Cowen, Deborah & Laleh Khalili (2018): Introduction: Turbulent Circulation: Building a Critical Engagement with Logistics. In: Environment and Planning D: Society and Space 2018, Vol. 36(4), S. 617 – 629. DOI: 10.1177/0263775818783101 journals.sagepub.com/home/epd (S.618ff.)

[16] Cowen, Deborah (2014): The Deadly Life of Logistics – Mapping violence in global trade. University of Minnesota Press, Minneapolis 2014. (S.3ff.)

[17] Greiner & Thiele 2019 Link

[18] https://1gnc.org/history/

[19] Drücke 2019 Link

[20] https://www.bmvg.de/de/themen/friedenssicherung/bilaterale-kooperation/wie-alles-anfing-i-deutsch-niederlaendisches-korps-12014

[21]https://www.deutschesheer.de/portal/a/heer/start/dienstst/deunelkorps/auftrag/!ut/p/z1/hU67DoIwFP0WB9be8hTdalwkaEwgEbqYArVgCiWlgp8vhslE49nOMwcoZEA7NjaCmUZ1TM48p8F1F8Zp7Gwcxz95Hj4EJEqxvbePvg2XfwE62_gHCIak4pDPG-ufG7EHCVCgdzayJ-qVNpIbxMr3Q8hr1lWSn1VJFiECKqQqluukK9xQANX8xjXX6KFnuTamH7YWtvA0TUgoJSRHpWot_K1Sq8FA9pmEvs0m7PpyjMnqBSfKzjY!/dz/d5/L2dBISEvZ0FBIS9nQSEh/#Z7_B8LTL29225N440I6AJT01D1ML4

[22] https://www.imi-online.de/2009/01/23/kriegsfuehrung-aus-d/

[23] https://www.wn.de/Muensterland/2008/04/Sie-gehen-staendig-in-die-Luft-40-Jahre-Transportkommando

[24] https://www.wn.de/Archiv/2008/04/yangoContent-Befehl-kommt-aus-Muenster

[25] https://www.youtube.com/watch?v=13CnQqudVYU

[26] Collier, Stephen & Andrew Lakoff (2010): Infrastructure and Event: The Political Technology of Preparedness. In: Braun, Bruce & Sarah J. Whatmore (2010): Political Matter: Technoscience, democracy and public life. S. 243 – 266 (S.248f.)

[27] Collier, Stephen & Andrew Lakoff (2010): Infrastructure and Event: The Political Technology of Preparedness. In: Braun, Bruce & Sarah J. Whatmore (2010): Political Matter: Technoscience, democracy and public life. S. 243 – 266 (S.259f.)

[28] Greiner & Thiele 2019 Link

[29] Ebd.

[30] Ebd.

[31] Pradetto, August (2004): Die NATO im Geflecht internationaler Organisationen. In: König, Helmut & Manfred Sicking (Hrsg.): Der Irak-Krieg und die Zukunft Europas. Transcript Verlag, Bielefeld 2004, S. 67 – 100. (S.74f.)

[32] Drücke 2019 Link

[33] https://search.creativecommons.org/photos/0756572c-a859-48d3-b244-bf733c4759da